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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 29 / November-Dezember 2013

ADHS bei Aussiedlerkindern
[Aussiedler Çocuklarýnda ADHS]


Mareike MEYER/Prof. Dr. J. MAND



Kennen Sie vermutlich auch: Kinder, die in der Schule nicht aufmerksam sind, immer in Bewegung und ziemlich impulsiv. Können nicht ruhig sitzen, zumindest nicht in der Schule. Melden sich nicht, wenn sie etwas sagen wollen, warten nicht, bis sie von ihrer Lehrerin das Wort erteilt bekommen, sondern sagen einfach, was sie sagen wollen, manchmal laut und störend. Haben Probleme mit den Lehrerinnen, haben manchmal auch Probleme in der Klasse. Diese Merkmale gelten Psychiatern und vielen Kinderärzten seit etwa Mitte der 1990er Jahre als Symptome eines Syndroms mit dem einprägsamen Namen Aufmerksamkeits-Defizit-Störung - kurz ADS, manchmal auch ADHS (wenn Hyperaktivität beobachtet wird).

Ob und in welchem Ausmaß die genannten Verhaltensweisen als psychiatrische Auffälligkeit verstanden werden müssen, ist seit vielen Jahren strittig. Traditionalisten erklären die Verhaltensweisen als Auswirkungen eines Problems im Gehirn, z. B. als Problem im Bereich der Botenstoffe (Neurotransmitter). Sie verschreiben ein Medikament, das den Namen Ritalin trägt. Das Medikament hilft dabei, sich zu konzentrieren. Die Kinder werden ruhiger, die Lehrer sind entspannter, die Eltern freuen sich, dass ihr Kind krank ist und nicht etwa verhaltensgestört. Allen ist geholfen, dank der Hilfe von Psychiatrie und dank der Segnungen der Pharmaindustrie. Dies könnte in Kurzform ein Bericht über eine atemberaubende Erfolgsgeschichte sein. So ganz ohne Schönheitsfehler ist diese Geschichte aber nicht, und es sind nicht nur die Diagnose- und Verschreibungsbesonderheiten bei Aussiedlerkindern, die für Irritationen sorgen.

Ein wichtiges Problem betrifft zunächst das Medikament. Die verabreichte Substanz Methylphenidat ist alles andere als harmlos. Die Wirkungen von Ritalin sind z. B. keineswegs auf ADHS Kinder beschränkt. Studierende schätzen die Wirkungen von Ritalin etwa im Rahmen ihrer Prüfungsvorbereitungen. Und es muss auch andere Interessenten geben. Denn der Schwarzmarktpreis für eine Tablette Ritalin liegt inzwischen bei immerhin 10 Euro. Man weiß zudem aus einer Vielzahl von Studien: Viele Lehrer sind keine neutralen Beobachter. Was dem einen als auffällig, als Ausdruck einer Verhaltensstörung gilt, buchen andere als Ausdruck eines erfreulich lebhaften Naturells ab. Bei welchen Kindern ADHS diagnostiziert wird, hängt also möglicherweise u.a. auch davon ab, mit welchem Lehrer das Kind konfrontiert ist. Vor dem Hintergrund, dass es auch einige Probleme in der Zuverlässigkeit der Diagnose durch Kinderärzte und Psychiatern gibt, ist das ziemlich beunruhigend. Man kann drittens sagen: Es gibt Unterricht, der besonders störungsanfällig ist und Unterricht, der auch Kindern mit nicht allzu langen Aufmerksamkeitsintervallen Lernchancen bietet. All diese Beobachtungen bedeuten: Die Diagnose ADHS, die Verschreibung von Ritalin helfen offenbar auch so manchen Lehrer/innen ihren mühsamen Alltag etwas erträglicher zu machen. Und weil es in deutschen Schulen offenbar nicht wenige solcher Lehrer/innen gibt, kann man sagen, dass Psychiatrie und Pharmaindustrie offenbar gelegentlich auch dabei helfen, die Auswirkungen schlechter Pädagogik zu kompensieren.

Die Besonderheiten des Syndroms, die Kontroversität der Debatte machen ADHS zu einem interessanten Kandidaten für eine Untersuchung von Migrationseffekten. Den Ausgangspunkt für diesen Beitrag in DIE GASTE liefert eine deutsche Krankenversicherung. Es mag ja sein, dass Lehrer und Eltern ruhige Kinder schätzen. Auch Ärzte freuen sich über gut gefüllte Wartezimmer. Aber irgendjemand muss das alles bezahlen. Und im deutschen Gesundheitssystem übernehmen die Krankenkassen diese Aufgabe. Für die Barmer GEK scheint die Schmerzgrenze vor einigen Monaten überschritten gewesen zu sein. Sie veröffentlicht einen Arztreport mit atemberaubenden Zahlen. Das Zentrum des Berichts bildet eine Landkarte Deutschlands, die nach Kreisen (und manchmal auch nach kreisfreien Städten) berichtet, an welchen Orten die Diagnose ADHS häufig fällt und an welchen Orten die Diagnose eher selten gestellt wird.

Der erste Blick auf diese Karte zeigt: Es gibt riesige Unterschiede. In einigen Kreisen wird eifrig diagnostiziert. In anderen Kreisen sind ADHS-Kinder eine Seltenheit. Diesen wirklich interessanten Datenschatz zu heben, hat sich nun ein kleines Forschungsprojekt an der Evangelischen Fachhochschule Bochum zum Auftrag gemacht. Das Vorgehen: Anhand der ADHS Deutschlandkarte werden Kreise identifiziert. Und die Informationen über ADHS-Diagnosen und Ritalin-Verschreibungsraten in diesen Kreisen werden in Beziehung gesetzt zu anderen vorliegenden Daten, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Variablen, u.a. auch zu Migrantenquoten, zu Anteilen von Schülern mit nicht deutscher Staatsbürgerschaft, zu Anteilen von Kindern aus Aussiedlerfamilien usw. Ein besonderes statistisches Verfahren (Korrelationsanalyse) vermittelt erste Hinweise auf systematische Zusammenhänge, zunächst für 20 Kreise im Bundesland Nordrhein-Westfalen mit insgesamt 1 269 593 Schülern.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse der hier vorgestellten Korrelationsstudie? Erste Befunde zeigen zunächst, dass die Diagnose ADHS / die Verschreibung von Ritalin wohl mit der sozialen Lage der Schuleinzugsbereiche zusammenhängt. In NRW erhalten Schulen mit schwierigem Einzugsbereich zusätzliche Lehrerstellen. Kreise mit vielen Schülern aus armen Familien, erhalten viele zusätzliche Lehrerstellen, Kreise mit wenigen Problemschülern erhalten nur wenige Mittel. Vergleicht man nun die Zahl dieser zusätzlichen Lehrerstellen mit den Daten der Barmer GEK, so entsteht ein erster statistisch bedeutsamer (signifikanter) Zusammenhang. Schulkreise, die viele dieser zusätzlichen Lehrerstellen erhalten und auch bei vielen Schülern sonderpädagogischen Förderbedarf erkennen, haben auch viele Kinder mit der Diagnose ADHS. In Kreisen mit wenigen zusätzlichen Lehrerstellen pro Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf ist auch die Diagnose ADHS selten. Bei den Aussiedlerzahlen ist das Verhältnis umgekehrt. In Kreisen, in denen viele Spätaussiedlerkinder leben, fällt die Diagnose „ADHS“ selten. Auch Ritalin wird hier nur zurückhaltend verschrieben. Betrachtet man schließlich alle Kinder mit nicht deutscher Staatsbürgerschaft, so verschwinden die berichteten signifikanten Zusammenhänge.

Wie kann man die Ergebnisse interpretieren? Die Interpretation von Korrelationsanalysen ist anspruchsvoll. Manchmal verweisen die Zusammenhänge auf kausale Beziehungen, manchmal aber auch nicht. In einigen Fällen gehen die gefundenen Zusammenhänge auf andere Besonderheiten zurück. Versucht man dennoch eine vorsichtige Interpretation, so sind die Befunde zunächst einmal verwirrend. Warum sollen ausgerechnet in Aussiedlerfamilien Kinder seltener auffällig werden? Auch die Hinweise auf eine Häufung von ADHS Diagnosen in schwierigen Verhältnissen wollen nicht so wirklich passen. Denn Aussiedlerfamilien verfügen in Deutschland definitiv nicht über besondere Reichtümer. Dass Aussiedlerkinder deshalb leistungsfähiger sind als z. B. Kinder mit deutscher Staatsbürgerschaft, weil ihre Eltern reicher sind, kann man also ausschließen. Schließlich weisen die Pisa Studien diese Schülergruppe als besondere Problemgruppe aus. Unsere ersten, vorsichtigen Hypothesen gehen in eine andere Richtung: Das Aufwachsen als Angehörige einer über lange Jahrzehnte verfolgten deutschstämmigen Minorität in Osteuropa könnte dabei geholfen haben, ein Familienmodell zu entwickeln, das die Entstehung von Aufmerksamkeit begünstigt oder zumindest mit Abneigungen gegenüber psychiatrischen Behandlungsansätzen verbunden ist. Aussiedlereltern erziehen also möglicherweise ihre Kinder so, dass weniger häufig Probleme entstehen oder sie haben kein besonderes Vertrauen in die Empfehlungen von Kinderärzten oder Psychiatern. Beide Interpretationen sind hoch bedeutsam. Denn die Suche nach resilienten Familienstrukturen und auch ethnische Besonderheiten im Umgang mit Ärzten sind für die ADHS-Forschung wirklich interessant.

Was sollen Eltern tun, wenn sie von Lehrern den Rat hören, ihr Kind auf ADHS untersuchen zu lassen? Einen einfachen Rat gibt es nicht. Aber zu wissen, dass sich ein solcher Rat von Lehrer zu Lehrer deutlich unterscheiden kann, zu wissen, dass ein solcher Rat in einer anderen Schule, in einer anderen Stadt vielleicht nicht erteilt wurde, zu wissen, dass es über das Ausmaß der Störung und ihre Behandlung eine lebhafte Debatte gibt, kann bei der Entscheidung helfen. Ein Wechsel in eine andere Schule ist zumindest eine Option, die man überdenken sollte.

Und was bleibt als Erkenntnisgewinn der ADHS-Studie? Das deutsche Bildungssystem ist immer wieder für Überraschungen gut. Man kann zunächst festhalten: Vor deutschen Psychiatern und vor deutschen Kinderärzten sind offenbar nicht alle Kinder gleich. Ob die Diagnose „Aufmerksamkeits Defizit Störung“ fällt oder nicht, ob Ritalin verschrieben wird oder nicht, ist in Deutschland zunächst offenbar eine Frage des Wohnortes. Und die Diagnose ADHS scheint auch eine Frage der ökonomischen Verhältnisse zu sein. Zum deutschen Schulsystem gehören offenbar auch Lehrer, die Eltern nahelegen, schwierige Kinder mit konzentrationsfördernden Medikamenten fügsamer zu machen. Und die Zahlen nehmen in den letzten Jahren drastisch zu. Die Auswirkungen von Migration verlaufen aber nicht auf den gewohnten Pfaden. Anders als z. B. In deutschen Förderschulen ist eine Benachteiligung von Migranten bei ADHS-Diagnose und Ritalinverschreibung nicht zu erkennen. Es mag ja sein, dass unruhige und unkonzentrierte Kinder in deutschen Schulen nicht besonders leicht haben. Viele, vermutlich deutlich zu viele müssen Medikamente nehmen, die alles andere als harmlos sind. Zum deutschen Bildungssystem gehören aber offenbar auch einige Migrantenfamilien, die sich diesen bedenklichen Entwicklungen entziehen können. Und dies, dies ist wirklich eine gute Nachricht, oder?