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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 29 / November-Dezember 2013

Erst Türkisch oder Russisch, dann Deutsch:
warum die Herkunftssprache bei Mehrsprachigkeit so wichtig ist
[Önce Türkçe ya da Rusça ve sonra Almanca: Kökendili Çokdillilik Baðlamýnda Neden Çok Önemlidir]


Dr. Natalia GAGARÝNA/Dr. Insa GÜLZOW
(Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft, Berlin)



Laut dem Bericht des Bundesministeriums des Innern von 2012 haben 15,7% der Einwohner Deutschlands, also über 12.8 Millionen Menschen, einen Migrationshintergrund, d.h. sie sind mehrsprachig. Zählt man auch multinationale Familien dazu, wächst in Deutschland jedes dritte Kind mehrsprachig auf bzw. hat eine andere Herkunftssprache als Deutsch. Der Berliner Interdisziplinäre Verbund für Mehrsprachigkeit (BIVEM) wurde vom Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) in Berlin initiiert und mit Unterstützung des Berliner Senats ins Leben gerufen. BIVEM setzt sich dafür ein, Forschungsergebnisse zu Mehrsprachigkeit in konkrete Fördermaßnahmen im Vor- und Grundschulbereich umzusetzen. BIVEM setzt sich außerdem dafür ein, die komplexen Bezüge zwischen den einzelnen Faktoren bei Mehrsprachigkeit zu vermitteln. Dies ist besonders wichtig, da die Ursachen für Probleme bei der sprachlichen Entwicklung von mehrsprachigen Kindern auf der Hand zu liegen scheinen, aber von Politik und Presse häufig vorschnell und ohne Rückgriff auf wissenschaftliche Studien zur Durchsetzung von neuen Programmen verwendet werden. Ein Beispiel: Seit Jahren schlagen Bildungspolitiker Alarm, die Deutschkenntnisse eines Teiles der -Grundschüler sind schlecht, in manchen Bundesländern braucht jedes zweite Kind gezielte Sprachförderung. Bei der obligatorischen Schuleingangsuntersuchung, die in Berlin durch Kinderärzte in Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten durchgeführt wird, zeigen durchschnittlich 20,9% der fünfjährige Kinder mit Migrationshintergrund Auffälligkeiten beim Nachsprechen von Sätzen und 23,2% bei der Pluralbildung (Oberwöhrmann, Bettge 2012: 64 [1].) Oberflächlich scheint der Zusammenhang klar, Mehrsprachigkeit ist schlecht für Deutschkenntnisse und am 13. Mai 2013 meldete die Onlineausgabe der Frankfurter Allgemeine Rhein-Main „Mangelnde Deutschkenntnisse: Zu Hause wird oft nur Türkisch gesprochen“ (www.faz.net/aktuell/rhein-main/mangelnde-deutschkenntnisse-zu-hause-wird-oft-nur-tuerkisch-gesprochen-12181881.html). Ähnliche Meldungen finden sich für denselben Erscheinungstag in den Onlineausgaben fast aller gängiger Tages- und Wochenzeitungen, darunter Die Welt, Der Spiegel, Bild und Hamburger Abendblatt.

Die Forderung, Familien mit Migrationshintergrund sollten zu Hause Deutsch sprechen (obwohl die Eltern keine muttersprachliche Kenntnisse des Deutschen haben) ist falsch, wie eine Studie am Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft zeigen konnte. In dieser Studie haben Annegret Klassert und Natalia Gagarina den Einfluss des elterlichen Inputs auf die Sprachentwicklung bilingual aufwachsender Migrantenkinder untersucht [2]. Hintergrund war die Frage, welche Sprache Eltern mit Migrationshintergrund mit ihren Kindern sprechen sollten, um deren Sprachentwicklung optimal zu unterstützen. Zur Klärung dieser Frage wurde eine Studie mit 45 vier- bis sechsjährigen Kindern russischsprachiger Migranten aus Berlin durchgeführt. Es wurden drei Gruppen verglichen, welche sich einzig durch die Menge des zu Hause gesprochenen Deutschs unterschieden. Die statistische Auswertung ergab keinen Unterschied zwischen den Gruppen in den Fähigkeiten der deutschen Sprache, jedoch signifikante Unterschiede in der russischen Sprache. Demnach kann kein förderlicher Einfluss der Verwendung des Deutschen durch Eltern mit Migrationshintergrund auf die Entwicklung dieser Sprache bei ihren Kindern nachgewiesen werden. Ihre Sprachentwicklung in der Herkunftssprache Russisch ist jedoch maßgeblich vom Sprachangebot der Eltern abhängig. Die Beherrschung der Herkunftssprache ist für die Identität der Kinder von enormer Wichtigkeit. Zum einen ist die Sprache eng mit der Kultur einer Sprechergemeinschaft verknüpft. Feste und Rituale sind nicht ohne weiteres in eine andere Sprache zu übertragen. Zum anderen ist die Herkunftssprache für die Bindung mit den Eltern wichtig. Die Eltern-Kind-Beziehung wird in der Regel über die Herkunftssprache der Eltern gestaltet. Im Jugendalter ist die Gefahr des Kontaktverlustes zwischen Eltern und Kindern besonders groß, wenn die Verständigungsmöglichkeiten eingeschränkt sind und etwa der Wortschatz der Kinder in der Herkunftssprache nicht ausreichend ist, um Probleme und Konflikte zu diskutieren. Umgekehrt ist die Kenntnis der Umgebungssprache Deutsch bei den Eltern häufig nicht ausreichend entwickelt, um sich so mit den Kindern zu verständigen. Vor dem Hintergrund der genannten Ergebnisse, kann man den Gebrauch der Muttersprache durch die Eltern nur unterstützen. Für eine Integration in den nicht-häuslichen Alltag der Kinder und für den erfolgreichen Erwerb des Deutschen es ist dennoch sehr wichtig, dass die Kinder so früh wie möglich in Kontakt mit dem Deutschen kommen und so viel wie möglich diese Sprache hören und produzieren.

Entgegen der Annahme, dass das gleichzeitige Erlernen mehrerer Sprachen ein Kind überfordern könne, bringt Mehrsprachigkeit bzw. das Beherrschen von mehreren Sprachen eher einen Vorteil als einen Nachteil mit sich. Allerdings weichen die sprachlichen Fähigkeiten mehrsprachiger Kinder von denen einsprachiger Kinder ab und können, oberflächlich betrachtet, zu falschen Schlüssen führen. Im Vergleich mit dem einsprachigen Erwerb erscheint der Verlauf des Erwerbs zweier Sprachen oft unvollständig oder lückenhaft (z.B. im Lexikon). Die Sprache zweisprachig aufwachsender Kinder weist eine oberflächliche Anfangsähnlichkeit zu der Sprache von einsprachig aufwachsenden Kindern mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) auf. Im Gegensatz zu den Befunden bei SSES verschwinden die Auffälligkeiten bei bilingual aufwachsenden Kindern allerdings im Laufe des Alters wieder, wenn der Erwerb ansonsten ungestört verläuft. Da bilinguale Kinder immer noch häufig mit den Tests für einsprachige Kinder getestet werden, kommt es oft zu Fehldiagnosen. Nach einsprachigem Standard gelten in diesen Fällen Kinder, die einen normalen bilingualen Spracherwerb durchlaufen, als sprachgestört, werden stigmatisiert und erhalten möglicherweise eine überflüssige und sinnlose Sprachtherapie.

Aufgrund dieser Befunde wird inzwischen der Mehrsprachigkeit im Kontext der Sprachtherapie mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Am 22./23. Februar 2013 veranstaltete der Deutsche Bundesverband der akademischen Sprachtherapeuten (dbs) sein 14. Wissenschaftliches Symposium zum Thema „ Mehrsprachigkeit im Kontext der Sprachtherapie“. Wenn mehrsprachige Personen von Sprachentwicklungsstörungen oder Aphasien betroffen sind, stellt sich die Frage, ob die auffällige Sprache eine Folge mangelnder Deutschkenntnisse oder einer (erworbenen) Sprachstörung ist. Aus genannten Gründen ist für die Erfassung der allgemeinen Kompetenzen Mehrsprachiger auch eine Sprachstandfeststellung der Erstsprachkompetenzen wichtig. Die Diagnostik in der Erstsprache leistet einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen SSES-Diagnose (Nach Sachse 2007 [3]). Zu den umschriebenen sprachlichen Entwicklungssto¨rungen (SSES) za¨hlen traditionell die defizita¨ren expressiven und rezeptiven sprachlichen Leistungen, die nicht dem Intelligenzalter entsprechen und mindestens 1,5 SD unter der Altersnorm liegen. Im Gegensatz zu sprachspezifischen Verzögerungen in der Umgebungssprache (Deutsch) treten SSES bei bilingualen Kindern in beiden Sprachen auf. Sie sind grammatikspezifisch, also von der Struktur der untersuchten Sprache abhängig, so dass ein Vergleich schwierig sein kann, wenn sich Entwicklungsschritte in den einzelnen Sprachen unterscheiden. Der Vergleich ist insbesondere dann schwierig, wenn die für die Sprachstandmessung in den zu vergleichenden Sprachen verwendeten Test untereinander nicht vergleichbar sind. Es liegt auf der Hand, dass bei den genannten Zahlen von Kindern mit Förderbedarf Kindertagesstätten mit der Aufgabe überfordert sind. Zuwenig Personal und zu wenig Kenntnisse der ErzieherInnen über Diagnose und geeignete Fördermaßnahmen stellen ein ernstzunehmendes Problem dar. Im Rahmen von BIVEM wird auch die Frage untersucht, wie ErzieherInnen optimal weitergebildet werden können, um diese neuen Aufgaben zu bewältigen. Und für Eltern, die ihre Kinder selbst unterstützen wollen, wurde in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft ein Sprachspiel in mehreren Sprachen entwickelt, das auch online verfügbar ist (www.frepy.eu).

Aufgrund der noch relativ jungen Erkenntnis, dass der mehrsprachige Spracherwerb eigenen Regularitäten folgt, die nicht aus den Ergebnissen zum einsprachigen Erwerb abzuleiten sind, sind viele Fragen zu sprachlichen Auffälligkeiten unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit noch ungeklärt. Hier stellt sich z.B. die Frage, ob Sprachtherapeuten ihr Methodenrepertoire auf Deutsch und Russisch, bzw. Deutsch und Türkisch anbieten müssen, oder ob die Therapie sprachlicher Strukturen exemplarisch in einer Sprache ausreichend sind. Sind die sprachlichen Symptome nur durch Sprachtherapie beeinflussbar oder wären früh- oder heilpädagogische Maßnahmen angebracht? Für die Entscheidung, ob ein Kind sprachliche Fördermaßnahmen oder eine Sprachtherapie benötigt, muss festgestellt werden, wo die Ursachen für den auffälligen Erwerbsverlauf liegen. Es muss geklärt werden, wie die Sprachentwicklung, das Sprachlernen und die Sprachrehabilitation bei mehrsprachigen Kindern aussieht. Welche zusätzlichen Ressourcen werden bei der Arbeit mit mehrsprachigen Kindern benötigt?

Wissenschaftliche Studien wie sie im Rahmen von BIVEM durchgeführt werden, liefern Ergebnisse von besonderer Bedeutung, die als Grundlage für die frühkindliche Sprachdiagnose und für die Entwicklung von Programmen zur Sprachförderung dienen können. Bei der Entwicklung von Sprachförderprogrammen ist es besonders wichtig, Zusammenhänge nicht nur oberflächlich herzustellen, sondern auf die Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien zurückzugreifen. Aus diesen Ergebnissen lässt sich dann z.B. ableiten, dass der erfolgreiche Erwerb der Herkunftssprache (Muttersprache) für Kinder in Familien mit Migrationshintergrund von entscheidender Bedeutung für ihre weitere (Sprach)-entwicklung ist.


    [1] . Oberwöhrmann, S., S. Bettge, et al. (2013). „Migrationshintergrund als Einflussfaktor auf die kindliche Entwicklung im Einschulungsalter – ein multivariates Modell" Gesundheitswesen 74(04): 203–209.
    [2] . Klassert, Annegret & Natalia Gagarina. 2010. Der Einfluss des elterlichen Inputs auf die Sprachentwicklung bilingualer Kinder: Evidenz aus russischsprachigen Migrantenfamilien in Berlin. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 4. 413-425.
    [3] Sachse, S. 2007. Neuropsychologische und neurophysiologische Untersuchungen bei Late Talkers im Quer- und La¨ngsschnitt. Mu¨nchen: Verlag Dr. Hut.